Gabriels Türkeiliebe und linksliberale Selbstvernebelungen

„Unglaublich, dieser Sigmar Gabriel! Da geht der einfach hin, schenkt dem türkischen Außenminister Çavuşoğlu einen Unterwerfungs-Tee ein, faselt irgendwas von Wiederaufnahme von Dialog und schlägt den Deal „Yücel gegen Panzer“ vor! Welch erbärmliche Erniedrigung, vor diesem diktatorialen Regime in der Türkei so niederzuknien! Und noch im selben Zug Panzer zu versprechen, von denen doch klar ist, dass die zum Plattmachen der Kurden genutzt werden! Selbst als SPD! Inakzeptabel, eine solche Herabwürdigung unserer demokratischen Werte!“

Empörung – die ist allerorts Tenor, wenn über das Wiederannäherungstreffen zwischen Gabriel und Çavuşoğlu gesprochen wird, das vor einigen Tagen in Goslar stattfand. Grundsätzlich muss man über die politischen Beziehungen zur Türkei ja auch dringend sprechen. Das Problem aber ist, dass diese Empörungswelle mit all ihren Voraussetzungen und Konsequenzen – und damit auch in ihren Apologien deutscher Politik – ebenfalls in Teilen der Linken Fuß gefasst hat. Sie ist eine Aktualisierung der Schwäche einer Linken, die es nicht schafft, ihre eigene Identität zu wahren und deshalb zum Spielball der Auseinandersetzung großbürgerlicher Interessen wird.

Deutsche Interessen, deutsches Geld…

Es ist ein gewisser National- oder wohl eher Machtstolz, der in dieser Empörung mitschwingt, und der sich geradezu nach einer Intervention des deutschen Staates sehnt: „Wir sind eine so mächtige Nation, ein so mächtiger Staat – wie können wir bloß vor einer so mickrigen Nation wie der Türkei einknicken! Deutscher Staat, hoffentlich haust du dem mal auf die Finger“. Dann aber vor allem der Moralismus, der einfach nicht kapiert, worum es geht.

Der Gabriel ist das Gegenteil von doof, der ist ganz schön geschickt. Der versucht ganz einfach noch weitestgehend ohne große militärische Macht Weltpolitik zu machen. Und dabei setzt er natürlich auch Druckmittel ein. Sein Parteikollege Niels Annen, außenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, hat es direkt im Anschluss an das Treffen in Goslar auf den Punkt gebracht: „Und es ist ja übrigens auch sehr, sehr viel eingesetzt worden an Druckmitteln – jetzt nicht nur die Frage der Unterbindung von Rüstungsexporten, [… ] es geht auch um die Frage der Hermes-Bürgschaften, die zum Teil gestoppt worden sind, die Kreditvergabe der Europäischen Investitionsbank[.]“ Und dann zum Kern der Sache: „[I]ch glaube, wir müssen auch über unsere eigenen Interessen sprechen. Die Türkei hat deutlich gemacht, sie orientiert sich auch in Richtung Russland und China, daran können wir auch kein Interesse haben[.]“

Siehe da: Es gibt über 6000 deutsche Unternehmen mit Niederlassung in der Türkei. Dies sei, so die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK), „ein großer Beweis unseres tiefen Interesses an einem guten Verhältnis unserer Länder“. Deutschland ist der größte Exportmarkt der Türkei und die deutschen Auslandsdirektinvestitionen in der Türkei sind die zweitgrößten nach denen der Niederlande, weshalb die sich, im Übrigen, noch weniger über das lumpenhafte Auftreten der türkischen Regierung beschweren als die Bundesdeutschen. Siemens hat erst vor Kurzem mal wieder eine Investition über eine Milliarde Euro in einem lukrativen Windkraftgeschäft in der Türkei abgestaubt. Aber es geht, wie es Annen auf den Punkt bringt, auch um glasklare geopolitische Interessen. Ein Potpourri an Zitaten von deutschen Eliten und Eliteinstitutionen der unterschiedlichsten politischen Couleur zur Sachlage verdeutlicht das:

Fangen wir an mit dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Jürgen Hardt. Der meinte 2016 in einer Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS): „Die Bedeutung der Türkei zur Diversifizierung unserer Energieversorgung und als Transitland für Energielieferungen aus dem Iran, dem Irak oder dem Kaspischen Raum wird zunehmen. […] Das Land ist zentraler außenpolitischer Akteur und Stabilitätsanker in der konfliktreichen Region zwischen dem Schwarzen Meer, dem Persischen Golf und dem Mittelmeer.“ Die Türkei als solider Partner also.

Das Problem sei allerdings, so Günther Seufert von der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) Anfang 2017, dass sich die Türkei aus hegemonialen und geostrategischen Eigeninteressen Richtung Russland und China wendet: „Aus strategischer Perspektive bleibt offen, was die Türkei ohne den Rückhalt der Nato russischer Machtprojektion im Schwarzen Meer, im Kaukasus und im Nahen Osten entgegensetzen will. Ein Bruch mit dem Westen ist deshalb weder ökonomisch noch strategisch sinnvoll. Doch kann sich der Westen nicht darauf verlassen, dass eine solche Sicht der türkischen Interessen in Ankara geteilt wird. Um die Türkei im Westen zu halten, sollte die EU Ankara deshalb entgegenkommen.“

Noch offener und konsequenter legt nur der Türkei-Korrespondent der FAZ, Michael Martens, dar, was das dann aus „demokratietheoretischer Perspektive“ bedeutet: „Selbst wenn an Europas südöstlichen Grenzen ein Staat entstehen sollte, in dem dauerhaft und systematisch Oppositionelle gefoltert und Menschenrechte missachtet werden, wäre es notwendig, am Dialog mit dem Nato-Partner festzuhalten.“

Die Liste an Zitaten lässt sich unendlich fortsetzen. Die Sachlage ist klar: Wirtschaftliche und geostrategische Interessen bestimmen deutsche Außenpolitik betreffs der Türkei, nicht irgendwelche abstrakten menschlichen Werte. Schon seit Jahrzehnten morden deutsches Geld und deutsche Waffen mit in Kurdistan, schon immer verschlossen deutsche Regierungen die Augen vor den Menschenrechtsverletzungen der unterschiedlichen diktatorialen Regime in der Türkei. Die derzeitigen Panzerdiskussionen sind schlicht Fortsetzungen derselben Politik, keine Unterwürfigkeitsgeste von Sigmar Gabriel. Das ist im Übrigen nichts Neues, schaut man sich die Verwicklung von deutschem Staat und deutschem Kapital in den Diktaturen in Brasilien, Argentinien, Griechenland und so weiter und so fort an. Von der Kontinuität von Strukturen und Personal des faschistischen Deutschlands in der achso demokratischen Bundesrepublik ganz zu schweigen. Das nennt sich deutscher Imperialismus. Siehe die Forderungen des Bundes deutscher Industrie (BdI) nach mehr Berücksichtigung wirtschaftlicher Interessen in der Sicherheits- und Außenpolitik im Jahre 2015; das neue Weißbuch der Bundeswehr aus dem Jahre 2016; Frank-Walter Steinmeiers unmissverständlicher Artikel „Germany’s New Global Role“ in der Juli-August 2016 Ausgabe der Foreign Affairs und unzählige andere Äußerungen und Strategiepapiere von deutschen Eliten zum Stand der Dinge: Der deutsche Imperialismus kommt mit aller Wucht zurück und stellt wieder Globalansprüche. Verpackt wird das, wie immer, in einer humanitären Hülle, damit man sich gegen den bösen Trump, den bösen Putin und die ganzen anderen bösen Bösen abgrenzen kann.

Der deutsche Imperialismus ist als solcher zu entlarven, damit man ihn bekämpfen kann. Wenn man ihn mit irgendwelchen Phrasen über demokratische Werte und Menschenrechte vernebelt, sich über irgendeinen Minister und sein Gebaren aufregt, diesen sogar zur richtigen „demokratischen“ Handlung gegenüber einer „menschenrechtsfeindlichen“ Regierung auffordert – nämlich endlich mal auf den Putz zu hauen, weil wir doch im Gegensatz zu „denen da“ eine „sozialstaatliche Demokratie“ seien – dann tut man genau zwei Dinge: Man erweist dem demokratischen und antifaschistischen Kampf in der Türkei einen Bärendienst und beteiligt sich zudem an der (Selbst-)Vernebelung der Machtverhältnisse.

Am Ende jubeln solche Linken sogar, wenn der deutsche Staat wirklich mal wieder autoritärer auftritt oder endlich eine konservativ-liberale Alternative zu Erdoğan, sei es nun Abdullah Gül oder Meral Akşener oder Kemal Kılıçdaroğlu, in der Türkei an die Macht kommt. Dann werden erneut die Player ausgetauscht, aber die spezifischen Konstellationen kapitalistischer Verhältnisse, die jenen reaktionären Schund erst hervorgebracht haben, bleiben erhalten. Genau so war es auch mit dem Machtantritt der AKP im Jahr 2002, der nicht von wenigen Linken bejubelt wurde. Same shit, different day. Eine solche Haltung ist zu reaktivem Verhalten verdammt, das niemals Agenden bestimmt, sondern von Agenden bestimmt wird. Ähnlich sieht es in der Türkeisolidarität breiter Teile des Bürgertums, aber eben auch der liberalen und in Teilen der radikaleren Linken, aus.

Kein Frieden ohne (Gegen-)Macht

Da wird dann stur zum Beispiel das auswendiggelernte HDP-Programm runtergebetet: Kein eigener kurdischer Nationalstaat mehr, nur mehr Demokratie und demokratische Autonomie, Freiheit und Rechte für alle Minderheiten und Menschen in der Türkei und so weiter und so fort. Stimmt ja alles, es ist aber nur ein Drittel der Wahrheit. Das zweite Drittel macht deutlich: Die Türkei gründet sich eben auf dem Genozid der armenischen Bevölkerung, auf der Kolonisierung von Teilen Kurdistans, der Marginalisierung der Alevitinnen und Aleviten, auf Antikommunismus und Revolution „von oben“. Diese Fundamente der Republik bestimmen bis heute Staat und Gesellschaft. Und nicht zuletzt, das dritte Drittel Realität: Die HDP war deshalb nur möglich auf Grundlage eines jahrzehntelangen Guerillakrieges, den die PKK zunehmend erfolgreich gegen den türkischen Staat geführt hat. Sie hat ihn somit unter anderem mit Waffengewalt dazu gezwungen, eine gewisse Öffnung der politischen Sphäre zu vollziehen und einen Friedensprozess, der von Anfang an ein Kräftemessen war, zu starten. Kurz: Ohne PKK keine HDP. Wer die PKK dafür kritisiert, dass sie es gewesen sein soll, die den Krieg in der Türkei 2015 erneut entflammt und quasi den Faschismus herbei provoziert hat, der hat es schlichtweg nicht geschnallt. Als ob der türkische Staat ein etwas schlecht gelaunter Hund sei, den man ja nicht provozieren sollte, weil er sonst Bürgerkrieg entfesselt, um den man aber sonst ganz still herumschleichen kann, um sein Ziel zu erreichen. Der türkische Staat diesmal unter Führung von Erdoğan war schon seit 2013 schnellenden Schrittes unterwegs zum Autoritarismus und zur Faschisierung. Das war das Einzige, was den Staat noch zusammenhielt. Als 2015 klar wurde, dass es knallen wird, hat die PKK souverän mit der Ausrufung von Autonomiegebieten gehandelt, bevor sie überrollt werden konnte. Wer sich genauer anschauen möchte, wie die Verhältnisse sich entwickeln, wenn sich ein Staat faschisiert, ohne von einer relevanten politisch-militärischen Gegenmacht in Schach gehalten zu werden: Ein Blick nach Ägypten genügt. Richtig ist eben das direkte Gegenteil der linksliberal-pazifistischen Illusionen: Ohne PKK ist in der Türkei derzeit überhaupt keine oppositionelle Politik möglich.

Das ist alles kein Aufruf dazu, sich jetzt auf den militärischen Kampf zu beschränken oder gar der PKK beizutreten. Es geht darum, zu verstehen, dass partielle demokratische Öffnungen überall, aber vor allem in Ländern wie der Türkei, Produkte erfolgreichen revolutionären Kampfes gegen Kapital und Staat darstellen. Der Kampf in allen anderen Sphären als der im engeren Sinne politisch-militärischen sind mit anderen Mitteln, aber derselben Militanz zu führen. Natürlich geht es darum, Spaltungen abzubauen, Bündnisse zu schmieden und trotz des weit verbreiteten Nationalismus und Chauvinismus in der Türkei fähig zu sein, mit dem Großteil der Leute in Kontakt zu kommen und mit ihnen Politik zu machen. Das wird aber zwangsläufig provozieren, denn jede Politik, die eine Demokratisierung oder gar sozialistische Revolution der Türkei beabsichtigt, ist eine Provokation, weil sich der türkische Staat und mit ihm das türkische Kapital aufgrund ihres historischen Charakters gegen selbstbestimmte populare Mobilisierungen stemmen. Und deswegen wird man Konflikten nicht entgehen können. Vor allem sollten wir nicht vergessen, dass es hier um Kampf von Macht und Gegenmacht geht und es darin nichts einfach so, nur aufgrund von irgendwelchen Werten oder Friedensprozessen gibt. Das Gegenteil ist der Fall: Erst wer der bestehenden Macht eine in den militärischen, politischen, sozialen und kulturellen Sphären verankerte Gegenmacht entgegenstellen kann, der kann erzwingen, dass es plötzlich um „Menschenrechte“ und „Friedensprozesse“, ja gar um soziale Rechte geht. Es gibt keinen anderen erfolgreichen Weg hierzu.

Von Waffen über Suppenküchen: linken Internationalismus wiederaufbauen

Der Umgang von Teilen der Linken mit der deutsch-türkischen Interessenkoalition offenbart damit eines: Ihre aktuelle Schwäche und Identitätslosigkeit. Natürlich will ich in keinster Weise die enorme Bedeutung der ganzen kleinteiligen Solidaritätsarbeit, der Prozessbeobachtungen, der öffentlichen Skandalisierungen der AKP-Willkür und dergleichen Dinge in Abrede stellen. Sie sind sehr wichtig. Wir sollten nur ganz klar wissen, dass das nicht ausreicht – und uns der schmerzhaften Bearbeitung dessen zuwenden, dass wir derzeit vielleicht zu viel mehr nicht in der Lage sind. Aber diesen Zustand in ideologischer und politisch-taktischer Hinsicht zu verabsolutieren wäre politischer Selbstmord. Denn indem die Linke ihre eigenen machttheoretischen, kapitalismuskritischen und taktisch-strategischen Traditionen, Erfahrungen und Weiterentwicklungen aufgibt und stattdessen linksliberale Denkmuster und Handlungsweisen übernimmt, kann sie sich nur zum Spielball bürgerlicher, imperialistischer Interessen machen. Der revolutionäre Internationalismus der 1970er und 1980er hat, bei all seinen projektionsbehafteten und kruden Fehlern, vorgemacht, wie internationalistische Solidaritätsarbeit geht: Einmal in Form von gezieltem Ressourcenfluss, unter anderem von Waffen, an die anti-imperialistischen und anti-kapitalistischen Kämpfe, vom Zentrum zur Peripherie. Zum anderen in Form von aktiver Mitarbeit am Aufbau von revolutionärer Gegenmacht vor Ort und Kampf gegen den eigenen Imperialismus hier. Es ist dringend an der Zeit, dass wir uns als revolutionäre Linke von den linksliberalen Illusionen, die die Bourgeoisie sät, verabschieden, klar die Feinde benennen und unsere Taktiken und Strategien neu ausrichten, damit wir nicht das linke Feigenblatt der jeweiligen Bourgeoisien werden oder verbleiben. Und zwar nicht nur in betreffs der Türkei-Solidarität.

Quelle: re:volt Magazin

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