Türkei wird Diktatur

In der Türkei ist ein Putschversuch gescheitert – und ein anderer dadurch beschleunigt worden. In der Nacht von Freitag auf Samstag, um 21:30 Ortszeit, begann der wohl aussichtsloseste Putschversuch der jüngeren türkischen Geschichte. Panzer besetzten einige wenige strategisch wichtige Orte, Kampfflugzeuge waren über türkischen Metropolen zu sehen, im staatlichen Fernsehsender wurde eine Moderatorin gezwungen, die Erklärung eines „Rates für den Frieden in der Heimat“ zu verlesen, der die autoritäre AKP-Regierung für abgesetzt erklärte.

Der Staatsstreich scheiterte schnell. Weder konnte er breite öffentliche Unterstützung mobilisieren, noch wollte ihn irgendeine der Oppositionsparteien unterstützen. Auch militärisch ging er dilettantisch vor. Und so konnte Ministerpräsident Binali Yildirim wenig später erklären: „Dieser Putschversuch wurde endgültig niedergeschlagen.“

Mit dem Ende der kurzen, aber blutigen Aktion begann das Rätselraten: Wer hatte hier gehandelt? Und warum? Und woher diese Unfähigkeit? Und wie wird das Regime des türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan nun reagieren?

Inszenierung, Amoklauf oder Verrat – Drei Theorien über das Scheitern der Putschen

Einig sind sich alle Beobachter: Irgendwas muss hier gehörig schief gelaufen sein, denn die putschenden Militärs verabsäumten so vieles, was zum Einmaleins eines „richtigen“ Putsches gehört: Weder verhafteten sie – mit Ausnahme des Armeeoberkommandierenden – irgendeine der in der Entscheidungsstruktur des AKP-Regimes bedeutende Person; noch schalteten sie alle Möglichkeiten aus, dass sich die Gegenseite medial an breite Schichten der Bevölkerung wenden konnte. Die Putschisten selbst blieben zudem völlig anonym, keiner von ihnen übernahm die Verantwortung, was sicher auch Auswirkungen auf die Reaktion der Bevölkerung hatte. Das Gros der Soldaten wurde unter dem Vorwand einer Übung losgeschickt und reagierte verwundert bis panisch über die eigene Rolle in dieser Aktion. Das militärische Vorgehen insgesamt wirkte planlos.

Drei Theorien gibt es bislang, woran es gelegen haben könnte, dass der Putsch so unprofessionell blieb. Die erste besagt: Er sei eine Inszenierung Erdogans gewesen, um seine eigene Macht ausbauen zu können. Der Hashtag #darbedegiltyatro (kein Putsch, sondern ein Schauspiel) trendet seit Tagen. Diese Einschätzung kann an vielen tatsächlichen Fakten anknüpfen. So ist es sicherlich erstaunlich, wie schnell Erdogan zu wissen vorgab, wer hinter dem Staatsstreich steht. Und die Listen, die den tausenden Verhaftungen zugrunde liegen, die auf den gescheiterten Coup folgten, sind sicher auch nicht erst Samstag Nacht erstellt worden. Aber: Die Inszenierungstheorie kann nicht erklären, aus welcher Motivation heraus sich doch recht zahlreiche hochrangige Militärs für so ein Schauspiel zur Verfügung stellen sollten, das für sie nun mit Folter und lebenslänglicher Haft, wenn nicht mit der Hinrichtung endet.

Die Amoklauf-Theorie dagegen, vor allem von regierungsnahen Medien verbreitet, kann diesen Umstand erklären: Sie besagt, dass die hinter dem Staatsstreich stehenden Generäle und Offiziere ohnehin auf einer Liste von wegen angeblicher Nähe zu Erdogans Intimfeind Fethullah Gülen abzusetzenden Militärs standen, das wussten und nun einen Verzweiflungsschlag gewagt hätten. Diese Theorie allerdings spielt die Ernsthaftigkeit des Versuchs herunter. Unter den dutzenden höherrangigen Militärs, die verhaftet wurden, sind zahlreiche, die wohl kaum abgesetzt werden sollten. Insbesondere die Zuordnung der Putschisten zu dem im US-Exil lebenden früheren Verbündeten und heutigen Gegner Erdogans, Fethullah Gülen, ist unglaubwürdig. Gülen gilt nicht als allzu einflussreich im Militär und die Verlautbarungen der Putschisten sprechen die Sprache säkularer kemalistischer Kreise, nicht der religiösen Gülen-Bewegung (was natürlich nicht heißt, dass die Gülen-Bewegung nicht Teil des Putschversuchs gewesen sein kann).

Die letzte Theorie über das Scheitern geht davon aus, dass der Putschversuch zwar ernsthaft war, aber frühzeitig an die Regierung verraten wurde. Hier gibt es zwei Varianten: Entweder die Regierung wusste schon sehr früh von den Vorbereitungen oder der Kommandierende der Ersten Armee, Umit Dundar, hat unmittelbar vor dem Coup gekniffen und sich noch auf Erdogans Seite geschlagen.

Bei all diesen Erwägungen darf, hier muss Murat Cakir von der Rosa-Luxemburg-Stiftung recht gegeben werden, die internationale Dimension des Putschversuchs nicht vernachlässigt werden. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass NSA und CIA nicht von den Vorbereitungen informiert waren: Entweder durch die Putschisten selbst – wie bei vergangenen Staatsstreichen in der Türkei -, oder eben weil die innenpolitischen Sachlagen in einem der geostrategisch bedeutendsten Nato-Staaten eben sowieso von den USA überwacht werden. Einer der Chefs des türkischen Militärgeheimdienstes befand sich ebenso unter den Verschwörern wie hochrangige Militärs mit engen Nato-Kontakten.

Die Differenzen zwischen Washington und Ankara in Sachen Syrienkrieg sind bekannt, unmöglich ist eine zunächst inoffizielle Unterstützung oder zumindest Tolerierung des Putschversuchs keineswegs. Dagegen sprechen auch nicht die dann pflichtschuldig getätigten offiziellen Distanzierungen Obamas und der Nato-Führung.

Interessant ist auch die Frage, ob denn tatsächlich der türkische Geheimdienst MIT nichts von den Vorbereitungen zum Staatsstreich, die ja offenkundig schon seit Monaten im Gang sein mussten, mitbekommen hat.

Erdogans Parallelstrukturen

Wie auch immer das Scheitern der Putschisten erklärt werden muss und wer auch immer wen an wen verraten hat, eine politische Einschätzung der Vorgänge kann man schon jetzt treffen. Und die richtige Einschätzung ist die der PKK-nahen Union der Gemeinschaften Kurdistans (KCK): Es handelt sich um einen Machtkampf der Eliten innerhalb der Türkei, der zu einer weiteren „Desintegration“ der Türkei führt.

Diesen Machtkampf hat vorläufig das Erdogan-Regime für sich entschieden. Und durch diesen Sieg gegen den Putsch beschleunigt sich der eigene Staatsstreich der AKP-Führung. Erdogans Projekt eines auf ihn zugeschnittenen Präsidentialsystem ist dabei ohnehin weit fortgeschritten. Während eines öffentlichen Auftritts in Rize hatte der Autokrat bereits im August 2015 erklärt: „Es gibt einen Präsidenten, der de facto die Macht in diesem Land hat, nicht einen symbolischen Präsidenten. (…) Ob man es akzeptiert oder nicht, das administrative System der Türkei hat sich verändert. Nun sollten wir die Verfassung dieser De-Facto-Situation anpassen.“

Dieser Anpassungsprozess schreitet voran. Und er geht durchaus

mit dem einher, was Erdogan permanent seinem Gegner, Fethullah Gülen, vorwirft: Dem Aufbau von Parallelstrukturen. Die AKP-Führung hat sich militarisierte Polizeieinheiten geschaffen, die komplett auf die Partei zugeschnitten sind, also nicht mehr unabhängig von der jeweiligen Regierung einfach auf den Staat selbst. Es sind Privatarmeen der Partei. Dazu kommen diverse islamistische Gruppierungen, die auch verstärkt in den vergangenen Tagen zum Einsatz gekommen sind.

So traten zum Beispiel Kämpfer aus dem Umfeld der İslami Büyük Doğu Akıncılar Cephesi, der „Front der Vorkämpfer für einen Islamischen Großen Osten“ in Aktion, die ihrerseits wieder mit den ohnehin vom türkischen MIT kontrollierten völkisch-dschihadistischen Milizen Ömer Abdullahs in Syrien verbunden sind. Gleichzeitig gab es gerade aus dem Kriegsgebiet in den kurdischen Gebieten im Südosten der Türkei vermehrt Berichte über irreguläre Truppen, die aus MHP-Faschisten und Islamisten zusammengesetzt sind und dort Spezialaufträge erfüllen.

Das ganze Volk?

Dem entspricht auch die Zusammensetzung des „gesamten Volkes“, das angeblich den Putsch verhindert haben soll. Der Mythos der Erdogan-Treuen, gerne wiedergegeben auch von europäischen Medien (und Wiener Trotzkisten), lautet ja, dass der Staatsstreich an einer nie dagewesenen Mobilisierung der gesamten türkischen Bevölkerung gescheitert sei. Das ist eine Lüge.

Zwar ist richtig, dass auch die demokratischen, kemalistischen, linken und sonstigen oppositionellen Teile der Bevölkerung den Putschversuch nicht aktiv unterstützten. Ansonsten verhält es sich aber so, wie Murat Cakir schreibt: „Zum einen ist festzustellen, obwohl die Regierung in den letzten Tagen quasi fast 24-Stunden lang von den Minaretten der rund 85.000 Moscheen zu Demonstrationen aufrufen ließen und Erdoğan sowie der Ministerpräsident Yıldırım persönlich die Menschen aufgefordert haben, auf die Straße zu gehen, landesweit gerade mal einige Hunderttausend und keine Millionen diesen Aufrufen gefolgt sind. Eventuelle Provokationen, so z.B. Zusammenstöße mit oppositionellen Kräften anzuzetteln, haben nicht gegriffen. Die Darstellung in den bürgerlichen Medien, dass »breite Bevölkerungsteile den Putsch verhindert« hätten, entspricht nicht der Realität. Vielerorts waren fanatische AKP-Anhänger*innen auf der Straße gegangen, die erst dann aktiv wurden, nach dem sich viele am Putsch beteiligten Soldaten ergaben.“

Wirkliche Massenmobilisierungen gab es in Hochburgen der AKP wie Konya oder Trabzon. In den Metropolen war die Beteiligung dagegen viel geringer als etwa bei den oppositionellen Gezi-Protesten 2013. Viele Menschen schließen sich seit Tagen aus Angst vor den marodierenden Islamistenbanden zuhause ein. Diese Banden zeigen dagegen schon, wo die Reise hingeht: HDP-Büros wurden angegriffen und seit Tagen kommt es in vor allem alevitischen und linken Stadtteilen, die mit dem Putsch überhaupt nichts zu tun haben, zu Angriffen des von Polizisten unterstützten Mobs. Die Slogans dieses „Volks“, das hier marschiert, beschränken sich übrigens auf „Allahu Akbar“ und Lobpreisungen von Recep Tayyip Erdogan.

Ein nicht kleiner Teil der Retter der Demokratie wurde durch die politische Instrumentalisierung der Religion mobilisiert. Die Moscheen riefen non-stop auf die Straßen, hin und wieder unter dem Label „Dschihad“, Heiliger Krieg. Der Rückhalt aus islamistischen Kreisen in Erdogans schwerer Stunde wird die AKP-Führung noch offener für die Durchsetzung der gesellschaftspolitischen Forderungen dieses Segments der türkischen Gesellschaft machen.

Beschleunigte Reaktion

Der gescheiterte Putschversuch wird die Lebensverhältnisse und politischen Kräfteverhältnisse in der Türkei ein weiteres Mal rasant verändern. Die Säuberung des Justizapparats und des Militärs sind in vollem Gange. Erdogan und die Seinen werden die Gelegenheit nutzen, um die entscheidenden Stellen im Staat von mit ihnen konkurrierenden Eliten zu säubern. Und die Verfolgung kurdischer und linker, alevitischer und sonst irgendwie widerständiger Strömungen in der türkischen Gesellschaft wird zunehmen.

Erdogan wird sich noch offener auf die radikal-islamistischen und völkisch-nationalistischen Kräfte im Land stützen, die sich in den vergangenen Tagen bereits als sein wehrhaftester Rückhalt erwiesen haben. Und die „Desintegration“ und Spaltung der türkischen Gesellschaft wird vorangehen. Es wird ganz offen die Frage stehen: Wie verhältst du dich zu der Losung „Eine Nation, ein Volk, eine Sprache, ein Führer“? Die bürgerliche Opposition wird sich entscheiden müssen: Eingliederung ins Lager des Autokraten, wie das große Teile der MHP und Teile der CHP ohnehin bereits praktizieren. Oder doch Widerstand gegen diesen Versuch, alle Teile der türkischen Gesellschaft dem neoosmanischen, neoliberalen, islamistischen Diktaturprojekt Erdogans zu unterwerfen? Es könnte durchaus sein, dass die Bilder von durch Islamisten auf offener Straße zu Tode gefolterten Soldaten dem ein oder anderen die Augen öffnen. Denn Gnade können nun nicht einmal die mehr erwarten, die noch bis vor Kurzem im Auftrag Erdogans gemordet haben: Mit Schürfwunden im Gesicht, Verbänden und eindeutigen Spuren von Folter werden die in Ungnade gefallenen Generäle vorgeführt, müssen Namen und militärischen Rang in die Kamera sagen und werden dann abgeführt. Es sind Männer wie der Mörder von Cizre, General Adem Huduti von der 2. Armee, Luftwaffenkommandeur Akin Öztürk, der Kommandierende der 3. Armee Erdal Öztürk oder der höchste Militärberater Erdogans, Ali Yazici. Sie alle waren an den Massakern in Kurdistan auf die eine oder andere Weise beteiligt, stolze militärische Führer, die nun wie geschlagene Hunde mit gesenktem Blick ihrem sicher kaum erfreulichen Schicksal entgegensehen.

 

– Von Peter Schaber

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